Skip to content

Warum das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen heute so wichtig ist

Public TV helps create understanding for different positions and keeps people in balance

TL;DR. Die meisten von uns nehmen über den Tag verteilt große Mengen vielfältiger Informationen auf, die uns über unterschiedliche Kanäle gezielt zugespielt werden. Provokante oder extreme Positionen werden in vielen Medien bevorzugt, da sie längere werbe-relevante Aufmerksamkeit binden. Dadurch gewinnen wir den Eindruck, dass die Positionen der Menschen immer weiter auseinander gehen, und nehmen außerdem selbst eher eine Position jenseits der Mitte ein.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat hingegen den staatlichen Auftrag unseren Horizont zu erweitern und außerdem keinen Auftrag unsere Aufmerksamkeit längstmöglich zwecks Werbeverkäufen zu binden, wodurch ein gemäßigteres Weltbild mit mehr Verständnis für Andersdenkende gefördert wird.
Dies ist demokratiefördernd und erfüllt damit eine höchstwichtige gesellschaftliche Funktion.

Das Ringen um Aufmerksamkeit

Im öffentlichen Raum hängen vielerorts Plakate, die uns Produkte nahebringen wollen oder uns auffordern eine bestimmte Partei zu wählen. Geschäfte werben an Gebäuden mit ihren Namen, um uns zum Einkaufen in ihren Räumen zu animieren. Auf dem Handy werden uns auf TikTok, Instagram, Facebook, YouTube und vielen anderen Social Media-Kanälen Videos und Fotos angezeigt, um unsere Aufmerksamkeit zu binden und uns zwischendurch Werbung anbieten zu können.

Über persönliche Nachrichten-Apps wie WhatsApp, Signal oder Telegram werden Bilder und Videos geteilt, die teils unterhalten, teils auch meinungsbildend wirken sollen.

In dieser Fülle an Informationen mit einer Botschaft wahrgenommen zu werden, ist eine Herausforderung.

Schauen wir uns zum Beispiel den aktuellen Wahlkampf an. Wir haben mehrere Parteien zur Auswahl, die um unsere Stimmen werben. All diese Parteien müssten sich im Falle des Wahlsiegs gleichermaßen um zentrale Infrastrukturfragen als Grundlage für Mobilität und Kommunikation kümmern, ebenso wie um Bildung, Gesundheit, Erhaltung des Lebensraumes und vieles mehr.
Wie sie das genau realisieren wollen, unterscheidet sich von Partei zu Partei, aber es gibt dennoch viele Aufgaben, die sehr ähnlich gelöst werden müssten. Darüber hinaus unterscheiden sie sich in einigen Punkten teilweise grundlegend. Die einen wollen die Situation für Arbeitgeber verbessern, andere sehen eher die Arbeitnehmer als Zielgruppe, weitere wollen die Natur schützen und andere wollen die Zuwanderung begrenzen.
Beim Buhlen um Wählerstimmen erreicht man keine große Aufmerksamkeit, wenn man Dinge fordert, die auch alle anderen bejahen. Stattdessen werden die Dinge, die eine Partei anders als alle anderen machen will, in den Vordergrund gestellt. So können die Mitbewerber darauf reagieren, um sich abzugrenzen, und es entsteht eine öffentliche Diskussion, in der alle Seiten mit ihrer Position wahrgenommen werden.
Wir nehmen daher überwiegend Diskussionen über die Unterschiede der Ideen war, obwohl die Chancen gut stehen, dass die meisten Parteien einen großen Teil der zukünftigen Entscheidungen mit ähnlichen Ergebnissen treffen würden.
Unterschiede werden in der Kommunikation also wichtiger als Gemeinsamkeiten. Auch dann, wenn die Gemeinsamkeiten insgesamt überwiegen.
Es gehört zu den Aufgaben der Medien, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Positionen herauszuarbeiten, sie gegenüber zu stellen und zu vergleichen sowie Machbarkeiten und zugrundegelegte Informationen auf den Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.

Die Interessen der Social Media-Anbieter

Ob politische Positionen medial geprüft und in Kontext gesetzt werden, und ob sie eine hohe Reichweite erhalten, hängt davon ab, über welche Kanäle sie verbreitet werden.

Ein Social Media-Anbieter, der sein Geld ausschließlich durch Werbeeinnahmen verdient, wird ein Interesse haben, den Benutzer möglichst lange an seinen Dienst zu binden. Je länger pro Tag ein Anwender vor dem Bildschirm sitzt, desto mehr Werbung kann der Anbieter einblenden, und desto mehr Geld verdient er. Eine unaufregende Nachricht über erwartbare Gemeinsamkeiten wird wenig Reaktionen hervorrufen. Eine provokante Aussage hingegen fordert eine Gegenreaktion oder Unterstützung ein, wodurch Diskussionen entstehen, die von vielen verfolgt werden und die Nutzer zeitlich binden. Dadurch wird mehr Werbung ausgespielt und die Einnahmen des Anbieters steigen.

X und Meta wollen die Inhalte ihrer Benutzer nicht mehr filtern, weil sie damit die Redefreiheit fördern wollen. Jedoch führt nicht allein die Veröffentlichung einer Meinung zu Reichweite, sondern vor allem die Verbreitung der Nachricht durch Empfehlungsalgorithmen. Diese zeigen den Benutzern gezielt Inhalte, die sie lange vor dem Bildschirm halten sollen, um Werbeeinnahmen zu generieren. Und das ist mit provokanten oder gar extremeren Inhalten leichter möglich als mit gemäßigten Inhalten.

Gilt es als Redefreiheit, wenn jeder auf einer Plattform alles veröffentlichen darf, aber nur bestimmte Inhalte vom Empfehlungsalgorithmus den Benutzern in großer Zahl zugespielt werden?

Zersplitterung der Gesellschaft

Wenn wir immer mehr die Unterschiede zwischen politischen Positionen wahrnehmen anstelle der Gemeinsamkeiten und auch kein Verständnis mehr für die Hintergründe anderer Meinungen entwickeln, wird ein Zusammenleben immer schwieriger werden.

Social Media-Inhalte haben heute eine sehr große Reichweite, und in der medialen Wahrnehmung insgesamt spielen extreme Positionen eine immer größere Rolle.

Wenn vor allem sich gegenüberstehende Positionen gezeigt werden und weniger die Gemeinsamkeiten, werden sich viele Menschen zwischen diesen Polen entscheiden und die Kluft zwischen den Meinungen kann sich dadurch vergrößern.

So wird das Zusammenleben von Menschen, die sich zwischen extremen Positionen entscheiden, immer schwerer. Und auch eine politische Koalition zwischen Parteien, die sich im Wahlkampf bekämpfen und die Zusammenarbeit ausschließen, wird nach der Wahl nicht leichter.

Was wir brauchen, ist eine gemeinsame Basis als Grundlage für unser Zusammenleben. Die Akzeptanz anderer Meinungen und das Bewusstsein, dass die Vielfalt an Ideen eine Stärke ist, die es uns erlaubt, besser mit der sich ändernden Welt umzugehen.

Was trägt das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen bei?

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat gemäß §26 Absatz 1 Medienstaatsvertrag einen klaren staatlichen Auftrag:

Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration, den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie den gesamtgesellschaftlichen Diskurs in Bund und Ländern fördern. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben die Aufgabe, ein Gesamtangebot für alle zu unterbreiten. Bei der Angebotsgestaltung sollen sie dabei die Möglichkeiten nutzen, die ihnen aus der Beitragsfinanzierung erwachsen, und durch eigene Impulse und Perspektiven zur medialen Angebotsvielfalt beitragen. Allen Bevölkerungsgruppen soll die Teilhabe an der Informationsgesellschaft ermöglicht werden. Dabei erfolgt eine angemessene Berücksichtigung aller Altersgruppen, insbesondere von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der Belange von Menschen mit Behinderungen und der Anliegen von Familien. Die öffentlich-rechtlichen Angebote haben der Kultur, Bildung, Information und Beratung zu dienen. Unterhaltung, die einem öffentlich-rechtlichen Profil entspricht, ist Teil des Auftrags. Der Auftrag im Sinne der Sätze 8 und 9 soll in seiner gesamten Breite auf der ersten Auswahlebene der eigenen Portale und über alle Tageszeiten hinweg in den Vollprogrammen wahrnehmbar sein.

Die Mediatheken der ARD und des ZDF haben ihre Empfehlungsalgorithmen bereits darauf ausgerichtet, die Informationsblase der Benutzer möglichst aufzuweichen: https://algorithmen.zdf.de/dashboard, https://www.ard-media.de/media-perspektiven/publikationsarchiv/2018/artikel/wie-koennen-empfehlungssysteme-zur-vielfalt-von-medieninhalten-beitragen/ und Teile des Empfehlungssystems sind als Open Source einsehbar: https://github.com/zdf-opensource/recommendations-pa-base.

Das bedeutet, dass die Öffentlich-Rechtlichen Sender bereits durch entsprechende Empfehlungsalgorithmen versuchen ihren Zuschauern eine große Bandbreite an Inhalten zuzuspielen, die ihre Filterblase vergrößern oder auflösen können.

Was könnten die Öffentlich-Rechtlichen noch tun?

Das Angebot zur Vielfalt funktioniert zumindest technisch über die eigenen Mediatheken, aber wird damit ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung erreicht? Und nehmen genug Zuschauer das Angebot an ihren Horizont zu erweitern?
Die Otto Brenner Stiftung (gehört zur IG Metall), beschreibt dazu, wie sich die Öffentlich-Rechtlichen an die Gepflogenheiten der verschiedenen Social Media-Plattformen anpassen, um dort Reichweite zu erzielen: https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH110_OERM_Soziale_Medien_Vierseiter.pdf.

Wenn Reichweite erzielt werden soll, müssen Inhalte dort ausgespielt werden, wo die Menschen Medien konsumieren. In einem Format, das zum jeweiligen Kanal passt. Gleichzeitig muss der öffentlich-rechtliche Auftrag erfüllt werden, was schwierig ist, wenn Empfehlungssysteme der gewählten Kanäle (Instagram, YouTube, Facebook, …) andere Ziele verfolgen.

Um herauszufinden, wie dieser Spagat geschafft werden kann, bedarf es Experimente, deren Erfolg gemessen wird, um weitere Handlungen daraus abzuleiten.
Dazu kann es nützlich sein, den öffentlich-rechtlichen Auftrag in konkrete Ziele zu übersetzen und für die Erreichung dieser Ziele Messdaten zu bestimmen, die erfasst und ausgewertet werden können.

Mich würden zum Beispiel folgende Versuche und Zahlen interessieren:

  • Wie viele Zuschauer erreiche ich mit einem Beitrag auf welcher Plattform?
  • Wie alt sind die Zuschauer?
  • An welcher Stelle des Clips steigen sie ein, wo steigen sie aus?
  • Was ist an diesen Stellen des Beitrags passiert?
  • Inwieweit unterscheiden sich die oben genannten Ergebnisse, wenn ich unterschiedliche Beitragsvarianten A/B teste?
  • Inwieweit kann ich den Horizont meines Zuschauers erweitern?
    • Z.B.: konnte ich neue Rubriken empfehlen, die der Zuschauer auch genutzt hat?
    • Konnte ich dem Nutzer zum selben Thema eines Beitrags, den er gesehen hat, einen Beitrag mit einer ganz anderen Position schmackhaft machen?
  • Kann ich die Zuschauer mit Inhalten, die ich auf anderen Kanälen oder Plattformen ausspiele, in die Mediatheken locken?
  • Falls ja: mit welchen Inhalten auf welchen Kanälen?

Wahrscheinlich gibt es viele weitere Fragen, die zu stellen und zu beantworten sich lohnt.

Fazit

Öffentlich-rechtliche Medien haben eine zentrale Rolle in der Demokratie: Sie können Polarisierung entgegenwirken und eine gemeinsame Diskussionsbasis schaffen. Doch sie müssen ihre Reichweite in den sozialen Medien weiter ausbauen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Dazu braucht es Experimente und datengestützte Strategien.

Die Herausforderung dabei: Wie bleibt man relevant, ohne sich den Logiken kommerzieller Plattformen zu unterwerfen?